Persönlich.Unternehmerinnen und Unternehmer erzählen.
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Mustafa Atici
Basel (*1969) ist in der Stadt Elbistan in der türkischen Provinz Kahramanmaras, der Heimat vieler alevitischer Kurdinnen und Kurden geboren und entstammt einer elfköpfigen Familie. Nach der Schulzeit belegte er an der Universität in Ankara den Studiengang Industrieingenieur. 1992 kam er in die Schweiz und immatrikulierte sich an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel. Nach drei Jahren wechselte er für ein zweijähriges Nachdiplomstudium «Master of Advanced European Studies» ans Europa-Institut. Heute ist er geschäftlich als selbständiger Berater und Unternehmer im Bereich Lebensmittel und Catering tätig. 2001 trat er der SP Basel-Stadt bei, wurde 2004 in den Grossen Rat gewählt und 2008, 2012 und 2016 bestätigt. Von 2005 bis 2019 war er Mitglied der Finanzkommission. Seit Dezember 2019 ist er Mitglied des Nationalrats. www.mustafaatici.ch |
Mustafa Atici (Foto: zVg)
In der Region Basel hat sich Mustafa Atici in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen grosse Verdienste erworben. Unermüdlich setzt er sich für Verständigung, Austausch und Integration ein. Eine wichtige Rolle spielen dabei KMU-Themen – vom Einsatz für «Familielädeli» über Berufsbildung bis zu den Rahmenbedingungen. Seit zwei Jahren engagiert er sich nun als Nationalrat (SP, BS) auch auf nationaler Ebene für diese Anliegen.
unternehmen.: Als selbständiger KMU-Unternehmer gehörst Du im Nationalrat einer Minderheit an. Stösst Du mit Deinen Anliegen grundsätzlich auf Verständnis? Mustafa Atici: Ja. Als Mitglied der Kommission «Wissenschaft, Bildung und Kultur» kann ich meine Sichtweise und meine Erfahrungen, insbesondere zu meinem Schwerpunkt Berufsbildung, bei Themen wie Weiterentwicklung der Berufsbildung, strukturellen Änderungen und Auswirkungen auf die Mitarbeitenden, Lernenden und KMU, aber auch bei anderen Themen einbringen. Die SP gilt bei vielen Leuten nicht als typische «KMU-Partei». Wie fühlst Du Dich in der Fraktion aufgehoben? In der Fraktion wird auf meine Meinung zu den KMU-Themen viel Wert gelegt. Vor allem im Zusammenhang mit Problemen von KMU mit den Folgen der Covid-Pandemie konnte ich sehr viel beitragen. Ich arbeite bei vielen Vorschlägen meiner Partei mit. Mit Stolz darf ich sagen, dass die SP im Frühjahr 2020 fast die einzige Partei war, die entschlossen sofortige Unterstützung für KMU gefordert hatte. Ich erwähne in Gesprächen immer wieder, wie wichtig die KMU für unsere Gesellschaft und Wirtschaft sind. Damit stosse ich auf Zustimmung. Die Partei ist immer hinter dieser Haltung gestanden und konzentriert sich in letzter Zeit verstärkt auf diese Thematik. In welchen Bereichen sollte das Parlament Deiner Meinung nach «KMU-freundlicher» werden? Ich glaube, dass das Parlament die KMU nicht nur aus der Perspektive der Steuereinnahmen bewerten sollte. Die Themen, die KMU betreffen, sind sehr vielseitig und für unser Land bedeutend. So sind KMU die wichtigsten Pfeiler unseres dualen Bildungssystems. Daher sollte man sie auf vielen Ebenen besser unterstützen und ihr Engagement stärker würdigen. Insbesondere ihre gesellschaftliche Bedeutung kommt heute etwas zu kurz. Am 17. März 2021 hast Du eine Motion «Validierung von Bildungsleistungen. Von der Zulassungslogik zur Zertifizierungslogik» eingereicht, die an den Bundesrat überwiesen worden ist. Ein toller Erfolg. In welcher Hinsicht besteht Handlungsbedarf? Die Verbundpartner der Berufsbildung haben seit Inkraftsetzung des Berufsbildungsgesetzes (BBG) 2004 grosse Erwartungen in «andere Qualifikationsverfahren» (BBG, Art. 33) zum Nachweis beruflicher Fähigkeiten und Fertigkeiten geweckt. Heute stellen wir ernüchtert fest, dass sich diese Logik der Anrechenbarkeit an formale Abschlüsse nur punktuell durchsetzen konnte. Die von einigen Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt zu wenig zahlreich angebotenen Validierungsverfahren sind meist sehr kostenintensiv und nur für ausgesprochen sprachbegabte und überdurchschnittlich gut organisierte Personen erfolgversprechend. Die Hoffnung, mit Validierungen grossflächig Personen ohne Ausbildung zu qualifizieren, wurde weitgehend enttäuscht. Die Validierung soll flexibel und modular informell erworbene Kompetenzen für den Arbeitsmarkt sichtbar machen. So können Fähigkeiten und Fertigkeiten spezifischer Zielgruppen unabhängig von formalisierten Bildungsgängen modular validiert und in (Teil-)Zertifikaten abgebildet werden. Dies verbessert die Chancen auf dem Arbeitsmarkt und vereinfacht den modularen Zugang zu Aus- und Weiterbildungsinstitutionen. Durch die Annahme dieses Postulats wird der Bundesrat Vorschläge für eine neue Ausrichtung der Validierungsverfahren ausarbeiten, wovon Mitarbeitende von KMU profitieren werden – und ein Teil der Arbeitslosigkeit im späteren Verlauf von beruflichen Biografien verhindert werden können. Ebenfalls bin ich mit vielen weiteren Themen in Bern unterwegs, die für KMU wichtig sind. Ein Beispiel: Am 16. Juni 2021 habe ich eine Motion eingereicht, die verlangte, dass im Arbeitslosenversicherungsgesetz (AVIG) die «rasche» Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt durch das Ziel einer «nachhaltigen» Wiedereingliederung ersetzt wird. Über den Erwerbsersatz länger dauernde Umschulungen und berufliche Ausbildungen, speziell von gering qualifizierten Erwachsenen, sollten mit dem Ziel finanziert werden, die Anzahl Geringqualifizierter in Programmen der arbeitsmarktlichen Massnahmen (AMM) möglichst zu verdoppeln. Dieser Vorstoss ist leider nicht überwiesen worden, aber ich werde am Thema «arbeitsmarktliche Massnahmen für mehr Weiterbildung von Personen, deren Arbeitsplätze durch strukturelle Änderungen gefährdet oder bereits weggefallen sind» dranbleiben. Neben vielen anderen Engagements setzt Du Dich seit vielen Jahren für «Familielädeli» ein. Welche Chancen bieten die speziellen Regelungen für diese Betriebe und was sind deren grösste Herausforderungen? Im Kanton Basel-Stadt gibt es 260 Familienbetriebe, welche als Mikrobetriebe zirka 1‘000 Arbeitsplätze für oft wenig qualifizierte Personen schaffen. Wären diese Personen stellenlos, würde dies unser Sozialwesen stärker belasten. Den Familielädeli kommt darüber hinaus eine wichtige und vielfältige gesellschaftliche Funktion zu: Wir müssen uns zum Beispiel darüber im Klaren sein, dass bestehende Arbeitsplätze durch Selbstbedienungskassen ersetzt werden. Das hat zur Folge, dass insbesondere für ältere Menschen und sozial Benachteiligte eine Möglichkeit wegfällt, persönliche Kontakte zu pflegen. Aber auch wir alle freuen uns doch, beim Einkaufen mit jemandem zu reden. Wir alle wünschen uns lebendige Quartiere und wollen den Austausch zwischen den Menschen. Dazu tragen die «Familielädeli» massgeblich bei. Ich denke, dass die Sensibilität für die Anliegen dieser Kleinbetriebe fehlt. Bei kleinen betrieblichen Änderungen müssen sie öfters viele komplizierte Formulare ausfüllen und lange auf Antworten warten, was für sie viel Aufwand bedeutet. Wie stehst Du zur Gruppe23, als Interessenvertretung der KMU-Wirtschaft, die postuliert, dass KMU Arbeitgeberinnen, Arbeitgebern, Mitarbeitenden und den Konsumentinnen und Konsumenten gleichermassen «nützen»? Ich habe viele Sympathien für die Gruppe23. Insbesondere gefällt mir der Ansatz, dass sie sich «für» Anliegen einsetzt und die gemeinsamen Interessen ins Zentrum ihrer Arbeit stellt. Es stört mich, wenn das Unternehmertum nur als Kapitalanlage gesehen wird und Interessen von Arbeitnehmenden und Arbeitgebern gegeneinander ausgespielt werden. Natürlich gibt es unterschiediche Ziele, bei Lohnverhandlungen beispielsweise, aber wichtig sind auch die vielen gemeinsamen Interessen. Gegenseitiges Verständnis ist nötig. Ich denke, dass die Gruppe23 mit ihrer menschlichen Haltung gute Arbeit leistet und zur gegenseitigen Annäherung beiträgt. Setzt die Gruppe23 Deiner Ansicht nach mit den Schwerpunktthemen «Digitalisierung», «Nachhaltigkeit», «Verkehr» und «Bildung» auf die richtigen Themen? Ich finde alle diese Themen wichtig. Vor allem Digitalisierung ist eine grosse Herausforderung für die KMU. Dort kann die Gruppe23 eine wichtige Rolle spielen. Die Arbeit wird nicht mehr nur in Werkstäten oder Büros erledigt, die Arbeitszeiten und -formen werden sich ändern. Daher wäre es gut, wenn die Gruppe23 sich auch noch stärker mit dem Thema Familie und Arbeit auseinandersetzen könnte. Das Gespräch führe Felix Werner im September 2021. © Die Nutzung und Wiedergabe von Inhalten, auch auszugsweise, ist nur mit schriftlicher Genehmigung pro-KMU und mit Quellenangabe gestattet.
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